Hallo!
kratzi schrieb:
warum wollen denn die meisten von uns papageien halten?
eben, weil sie auch zahm werden können und auch als teil der familie angesehen werden können.
was ist daran falsch?
Nichts ist falsch daran. Papageien werden zahm – das gereicht uns Menschen zur Freude und ist der Tiere schwerstes Kreuz. Denn würden sie sich uns Menschen nicht anschließen, dürften sie jetzt ungestört in ihrem natürlichen Lebensraum herumfliegen. So gesehen ist es realistisch, auf ein anhängliches Familienmitglied zu hoffen, wenn ich mir einen Großvogel anschaffen möchte.
Die Fragen sind nur: Wie gestalte ich unsere Familienzusammenführung? Darf mein Vogel mitreden, was Tempo, Art und eigene Vorstellungen angeht? Erlaube ich ihm, artspezifische und individuelle Eigenarten zu behalten, auch wenn dies zu meinen Lasten geht? Kann ich damit leben, wenn das Tier nicht hundertprozentig meine Hoffnungen erfüllt?
Genau dies wage ich zu bezweifeln bei einer Käuferschicht, der suggeriert wird, man brauche sich mit derlei Fragen nicht zu beschäftigen, weil es eine Sorte von Vögeln gebe, nämlich
Handaufzuchten, die perfekt auf meinen Bedarf nach gut angepassten, stressfrei integrierbaren Haustieren abgestimmt seien. Da kann ich mir sogar als ängstlicher Anfänger einen Ara oder Kakadu ins Haus holen – er ist bereits für mich „entschärft“ und „vorbearbeitet“.
Ich lese jetzt fast ein Jahr im Amazonen-Forum mit und habe mich schon öfter gefragt, woher die Hilferufe von Neulingen kommen, die da lauten „Meine HA ist schon 10 Tage bei mir und lässt sich nicht anfassen“. Wenn man nachfragt, stellt sich heraus, dass meist genau jene fatale Vorstellung dahintersteckt, von der ich oben sprach, nämlich: Es ist eine HZ, dann dürfte sie mir doch keine Probleme bereiten – was ist passiert?
Tja, was ist passiert mit einem Vogel, der vorher seinem Züchter am Hals gehangen hat und nun bei mir in einer fremden Umgebung hockt? Wirft er sich trotzdem freudig gleich jedem Fremden auf den Schoß, oder muss er sich erst akklimatisieren, bevor er vielleicht feststellt, mein neuer Halter ist eigentlich ganz sympathisch?
Es gibt sicher
Handaufzuchten, die sich von Fremden fast wahllos betatschen lassen. Dies sind sicherlich die Aushängeschilder der entsprechenden „Innungs“-Werbung. Andererseits gibt es aber auch (wie mein Max)
Handaufzuchten, die sich selbst nach einem Jahr noch nicht am Kopf kraulen lassen wollen. Ein Anfänger mit einer stark vordefinierten Vorstellung von Zahmheit wäre von meinem Amazonen-Jungen jetzt wahrscheinlich ziemlich enttäuscht.
An diesem Punkt liegt meines Erachtens die Crux. Wir reden von eigenen Erfahrungen, die wir alle gemacht haben, seien es positive oder negative Beispiele für oder gegen die
Handaufzucht. Ich halte eigene Erfahrungen generell für statthaft und wichtig, denn schließlich sind sie es, die unsere ureigenen Belange bestimmen. Allerdings werde ich nachdenklich, wenn ich zu einem komplexen Thema meine eigenen drei oder vier Erfahrungswerte beisteuere und daraus dann allgemeingültige Aussagen ziehe.
Ein Beispiel: Meine erste Amazone war ein Wildfang, einzeln gehalten in den 80er Jahren, als das noch als Normalfall galt. Diese Amazone widersprach jeder Prophezeiung: Entgegen allen Unkenrufe war sie kein Rupfer, kein Schreier und hing auch nicht unnatürlich an uns Haltern. Das einzige, was den Umgang mit diese Amazone unerquicklich machte, war, dass sie immer wieder unvermittelt zuhackte. Um genau zu sein: 14 Jahre lang. Dieser Vogel hatte schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, und das konnte er nicht eher ablegen.
Welchen Schluss kann ich jetzt aus meiner Erfahrung ziehen? Dass Wildfänge angenehme Hausgenossen sind, die keineswegs schreien, rupfen und kletten? Deswegen würde ich immer wieder einen Wildfang nehmen (die ethische Seite bezüglich der Fang- und Handelspraxis mal beiseite gelassen)? Und ich kann gar nicht verstehen, dass andere Leute diese guten Erfahrungen mit ihren Wildfängen nicht teilen? Dann werden sie wohl falsch gemacht haben, oder woran liegt das?
Ich werde mich hüten, diesen Schluss zu ziehen. Obwohl er gegen meine am eigenen Leib verspürte Erfahrung spricht. Ich glaube nämlich nicht, dass meine spärlichen Einblicke in diese komplexe Materie ausreichen, um hier universelle Aussagen zu machen. Ich bin vielmehr auf die Erkenntnisse anderer angewiesen, die mehr Erfahrung und Durchblick haben als ich (in der Regel wird das die Wissenschaft sein). Vielleicht werden deren Ergebnisse mit meinen eigenen Beobachtungen übereinstimmen, vielleicht aber auch nicht. Und es bleibt mir selbstverständlich immer offen, meine eigenen Erfahrunsgwerte kundzutun – doch um Himmels Willen sollte man sich nicht einbilden, alle Fragen der Orchideenzucht beurteilen zu können, nur weil man es geschafft hat, einmal bei sich zu Hause auf der Fensterbank eine einzelne Blüte zu retten.
Ich habe bei meinen drei Amazonen Merkmale festgestellt, die sowohl in gängige Schemata passen als auch gerade nicht. Gegenüber meinem Wildfang und der Naturbrut ist meine HA derjenige Vogel, der am scheuesten ist. Damit kann ich leben, weil ich andere Prioritäten habe. Noch habe ich persönlich keine wirklichen Probleme mit meiner HA, und ich hoffe natürlich, dass dies so bleibt. Ich lehne diese Form der (kommerziellen) Aufzucht trotzdem ab. Sie ist und bleibt ein Eingriff in die Natur, der zum Schaden der Tiere geht und – das ist das Kuriose – uns Menschen noch nicht mal die Garantie geben kann, dass wir genau das erhalten werden, was wir damit bezwecken. Tiere bleiben nun mal Geschöpfe und werden niemals programmierbare Maschinen werden.
Viele Grüße
Rinus