Hallo Thorsten!
Ich kann mir gut vorstellen, dass du dich in der Zwickmühle befindest: Einerseits möchtest du dir von deinem Neo nicht alles gefallen lassen, auf der anderen Seite hast du Angst, dass du zu rabiat vorgehst und er sich dann von dir entfernt.
Ich kenne diese Angst, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Disziplinierung. Ich musste in diesem Herbst mit meinen beiden Grünen eine Therapie mit Sempera machen, weil sie Aspergillose im Frühstadium hatten. Also jeden Morgen Schnabel auf, Spritze rein, runterschlucken. Natürlich hört sich das einfacher an, als es in der Praxis war. Meine Mia kannte das Procedere schon von früher, aber Max war derzeit erst wenige Monate bei uns und wir befanden uns sowieso noch im Stadium des Kennenlernens. Irgendwie haben wir es trotzdem hingekriegt. Ich musste die Vögel mit einem Geschirrtuch im Nacken packen, sie festhalten, die Spritze in den Schnabel wrögeln und dann auch noch so lange den Schnabel zuhalten, bis sie das Zeug geschluckt hatten. Und das ganze Theater ganze drei Wochen lang.
Ich hab in dieser Zeit einen guten Bekannten getroffen, der Psychiater von Beruf ist (für Menschen natürlich). Ich erzählte ihm im Laufe eines rein privaten Gesprächs von meinen beiden Grünen und auch davon, dass ich mir vorkäme wie ein Vater, der seine Kinder mit etwas Unbequemen behelligen muss und jetzt fürchtet, dass seine Lieben sauer auf ihn sein könnten. Ich hatte im Grunde dieselbe Angst, die du oben hinsichtlich Neo beschreibst. Der Bekannte sagte daraufhin nur einen Satz: "Ja, das kenne ich; dahinter steckt die Angst, dass die Bindung zwischen dir und deinen Vögeln (respektive Kindern) nicht tief genug sein könnte, dass sie einen solchen Einschnitt verkraften würde."
Ich hab mir diesen Satz genau überlegt und bin zu dem Schluss gekommen: Genau dies ist es! Seitdem hat sich meine Angst, nämlich die Gunst meiner Grünen zu verlieren (denn darum geht es unterm Strich), mit einem Schlag gegeben. Ich vertraue jetzt darauf, dass unser Verhältnis tragfähig genug ist, auch mal unangenehme Zwischenfälle wie die Medikamentenvergabe oder das Straffliegen oder auch mal ein Anschreien wegzustecken, ohne dass dies dazu führt, unser Verhältnis generell in Frage zu stellen.
Tatsächlich hatten Mia und Max damals die Sempera-Therapie hingenommen, widerwillig zwar, aber ohne jegliche anhaltende Abkehr von mir. Genauso verhält es sich, wenn ich sie maßregeln muss oder über den Flur jage. Sie mögen vorübergehend ein bisschen eingeschnappt sein, aber das Vertrauen zu mir ist dadurch nie ernstlich in Gefahr geraten.
Ich weiß allerdings nicht, inwieweit individuelle Dispositionen hier eine Rolle spielen. Ich kann natürlich nur für mich und meine Erfahrung sprechen. Sie hat freiwilig bei allen meinen drei Amazonen zu dem gleichen Ergebnis geführt, so unterschiedlich die einzelnen Amas auch gewesen sein mochten bzw. noch sind. Vielleicht liegt es, wie gesagt, daran, dass ich mittlerweile generell großes Vertrauen habe: zum einen in die "Intelligenz" der Vögel und zum anderen in mein Gespür, meist das (hoffentlich) Richtige zu tun. Die Vögel werden schon wissen, was sie an mir haben, und ich kann in der Regel gut unterscheiden, warum sie jetzt zuhacken, ob aus Angst, aus Überraschung oder einfach nur, weil sie der Hafer sticht. Entsprechend fällt dann meine Reaktion aus. So was kommt automatisch mit der Zeit, wenn man seine Amas beobachtet, sie gut kennt und weiß, wie sie reagieren. Meine drei Amas (die verstorbene und Mia + Max) geben mir Recht. Sie hatten alle irgendwo ihre Macken und zickten auch mal rum, aber unterm Strich sind sie alle handzahm geworden mit mehr oder weniger deutlichem Drang, meine Nähe zu suchen. Also haben sie alle meine Disziplinierungen nicht zum Anlass genommen, sich von mir zu entfernen.
Ich denke, das sollte jeden zuversichtlich machen, der hier Zweifel hat bei seinen Grünen. Ich bin ja schließlich ein ganz gewöhnlicher Halter und nicht etwa ein Sondermodell, dem es in die Gene gelegt wäre, mit seinen Amazonen klar zu kommen (jedenfalls was Widerworte betrifft). Was ich hinkriege mit meiner (wie ich finde) konsequenten Erziehung, das kann jeder andere auch.
Deswegen will ich dir Mut machen, an deine und Neos Fähigkeiten zu glauben! Er wird dir nicht anhaltend böse sein, wenn du ihm zeigst: bis hierhin und nicht weiter. Vielleicht wird es im ersten Moment zu Irritationen kommen, wenn die Situation neu für Neo ist, aber das wird sich geben. Solange man die Vögel nicht schlägt oder sie ausdauernd ärgert, werden sie Vertrauen zu ihrem Halter entwickeln und ausbauen. Dafür sind Amazonen schließlich bekannt.
Mein Max geht mir übrigens ganz schön auf die Nerven mit seinem ewigen Gekneife. Wenn's nach mir ginge, könnte er sich das ganz schnell abgewöhnen, aber, wie gesagt, so lange nicht Blut fließt, halten sich meine Sanktionen in Grenzen. Ob es allerdings daran liegt, dass
Handaufzuchten frecher sind, weil sie die Scheu vorm Menschen nie kannten, weiß ich nicht. Ich hab eher den Eindruck, das ist ein männliches Problem, also Aufmüpfigkeit, den Macker raushängen lassen. Aber ob das belegbar ist? Keine Ahnung!
Ich hoffe, du kannst was anfangen mit meiner Antwort. Sicher kann man Neo und Max nicht eins zu eins vergleichen, aber vielleicht konnte ich dir ja ein bisschen die Angst nehmen vorm "Versagen".
Max im Übrigen hat auch erst mal keinen Bedarf an meiner Nähe, wenn er sich von mir einen Rüffel eingefangen hat. Aber ist es bei uns anders? Rennen wir auf unseren Partner zu, als wär nichts gewesen, wenn er uns gerade angeschnautzt hat? Nee, wir warten erst mal ab, bis sich unsere negative Stimmung gelegt hat. Wenn Neo also wegfliegt, warte doch eine bisschen, geh dann wieder zu ihm hin - und schleim dich ruhig ein, wenn du denkst, das bringt was! Rede nett mit ihm, spiele ein bisschen mit ihn und nimm ihn dann auf die Hand. Dann sind die Fronten klar und ihr könnt von vorne anfangen.
Viele Grüße
Rinus.