Liebe Anja,
ich bin erstaunt, aber natürlich hocherfreut, eine solche Zustimmung zu finden. Meine Artikel, die zugegeben nicht immer supersanft formuliert sind, finden, wenn es an wirklich harte Kritik geht, schon eher ablehnende Geister. Umso mehr freut es mich, daß meine Meinung auch auf Zustimmung trifft.
Es fällt manchmal schwer, eine Anfrage, bei der man zwischen den Zeilen lesen kann, daß hier wirklich essentielle Grundfragen der Vogelhaltung mißachtet werden, deren Folgen wirklich zum Teil sehr grausam sind, ruhig und einfühlsam zu beantworten. Manchmal kommt bei mir dann auch der Punkt, wo ich nicht mehr recht einfühlsam sein mag, sondern meinem Frust einfach mal Luft mache.
Man liest hier und da positive Beispiele, wo Vogelhalter bemüht sind, den Aufenthalt im heimischen Zimmer so leicht und angenehm wie möglich zu gestalten, wo sie sich wirklich Gedanken um die Gesundheit und das Glück ihrer gefiederten Gäste machen. Dann kommt wieder eine solche Frage dazwischen, die mich am Erfolg meiner Bemühungen zweifeln läßt. Ich weiß manchmal nicht, ob diese Leser noch keinen Beitrag des Forums gelesen haben, daß sie so blauäugig fragen oder ob es so schwer ist, es zu verstehen.
Natürlich weiß ich, daß es keine böse Absicht ist, aber manchmal kann einen auch tiefste Ahnungslosigkeit böse machen. Ich hätte sicherlich mehr Geduld, wenn es dabei nicht um so viel Leid ginge, welches sich mitunter daraus entwickelt. Nun sind Nymphen und Wellensittiche nicht dafür prädestiniert, zu argen Rupfern oder gar Kannibalen zu werden, sie werden meist nur melancholisch oder einige rupfen Federn, im anderen Fall werden sie aggressiv - aber das Leid, welches sie durchleben, ist dasselbe, welches bei größeren Sittichen und Papageien mit den bekannten Bildern der "Brathühner" oder gar Kannibalen einhergeht.
Ich frage mich, ob wirklich erst jeder einzelne Vogelhalter selbst die Entscheidung treffen muß, einen sonst körperlich gesunden Vogel töten zu lassen, nur damit er sich nicht schließlich bei lebendigem Leibe auffrißt? Und das ist keine Übertreibung: Arge Rupfer gehen über kurz oder lang oft dazu über, die Haut, auf der keine einzige Feder mehr sitzt, selbst anzunagen und abzufressen. Ist die Haut weg, kommt das Fleisch dran, bis dann die Knochen durchgucken...
Ist es soweit, dann kann man dem Tier wirklich nur noch den "Gnadenschuß" geben und das ist kein Verdienst, auf den irgendjemand stolz sein könnte.
Man verzeihe mir daher meine mitunter sehr ruppige Art, aber alle diese zum Tode verurteilten Vögel haben irgendwann einmal damit begonnen, daß sie zahm sein und sprechen sollten, was sie ja auch taten. Umgedreht wird natürlich nicht jeder zahme Einzelvogel zum Rupfer oder Kannibalen, da gehören einige charakterliche Aspekte dazu und schließlich, wie sehr die Familienmitglieder bereit sind, den Vogel in das Tagesgeschehen zu integrieren.
Aber selbst wenn von 50 oder 60 Vögeln vielleicht 10 oder 15 Rupfer oder aggressiv würden und ein oder zwei wegen Kannibalismus eingeschläfert werden müßten, wäre mir das einfach zuviel. Ich kann den tiefen Sinn für diese Quälerei nicht erkennen, wirklich nicht.
Natürlich versuchen die Halter, sobald der Vogel zu rupfen beginnt, gegen diese Unart etwas zu unternehmen. Schnell sind sie auch bereit, einen Partner zu kaufen (der Vogel ist ja jetzt schon zahm), doch wie groß ist das Erstaunen, wenn dieser den Partner nicht freudig begrüßt, sondern hartnäckig versucht, ihn umzubringen. Bei kleineren, friedlicheren Sittichen quittiert der Vogel den neuen mit Desinteresse und buhlt weiter fleißig um die Aufmerksamkeit des Menschen. Es wird für ihn eine heftige Enttäuschung sein zu sehen, wie dieser sich von ihm abwendet und er wird eine Weile trauern, bis er akzeptiert, daß es mit der großen Zuwendung vorbei ist. Dann freilich wird er sich seinen neuen Partner vorsichtig beäugen...
Liebe Anja,
Du hast diese Erfahrung mit Deinen Nymphen gemacht und Nymphen sind ja nun ausgesprochen unkompliziert. Sie arrangieren sich nach relativ kurzer Zeit und sind sehr tolerant. Ich denke, daß es Dir nicht schwerfallen wird, Dir vorzustellen, wie mühselig und kompliziert es bei größeren Papageien ist, sie wieder zu resozialisieren. Oft dauert es Monate, bis der ehemalige Einzelvogel aufgibt und die neue Partnerin überhaupt eines Blickes würdigt. Manchmal erhebt er ein Geschrei, sobald sie überhaupt in die Nähe kommt. Manchmal kreischt er tagelang nach dem Besitzer. Man kann sich vorstellen, welchen Streß dies für alle beteiligten Vögel und auch für die Familie darstellt. Die meisten Halter geben daher den lästigen, mittlerweile völlig verunstalteten Vogel lieber schnell weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Noch schneller entschließen sie sich dazu, wenn der Vogel nicht rupft, sondern einfach aggressiv wird.
Sicherlich bekommt eine Mutter schnell Angst, wenn der Familienara auf einmal die Marotte entwickelt, die Familienmitglieder in den Hals beißen zu wollen. Da wird die Entscheidung meist noch schneller getroffen. Man gibt das Tier weg und denkt, damit ist alles erledigt und der Vogel wird sich schnell erholen. Was diesem dann noch bevorsteht, erleben sie nicht mehr mit, auch nicht, ob die Resozialsierung überhaupt Erfolg haben wird.
Deshalb, liebe Vogelhalter, denkt daran und werdet Euch klar, daß auch Euer kleiner Wellensittich leidet, man muß nur erst einmal das gewisse Auge dafür entwickeln, um seine verzweifelten Annäherungsversuche überhaupt zu bemerken. Hat man aber einmal das Gespür dafür entwickelt, sticht es einem richtig in die Augen. Tut es dem Vogel nicht an, auch wenn Ihr trotzdem Freude an seiner munteren, zutraulichen Art habt. Die werdet Ihr auch haben, wenn er nicht ständig darauf aus ist, auf Eurer Schulter zu sitzen. Nein, Ihr werdet sogar noch reicher belohnt, denn er wird Euch gestatten, Teil an seinem natürlichen Leben zu haben und Euch viele Geheimnisse des Lebens der kleinen Vögel preisgeben.
Wer einmal eine Balz gesehen, die Brut und Jungenaufzucht beobachtet hat, mag um nichts in der Welt sie mit einem zahmen Vogel tauschen. Faszinierender als das Leben zu beherrschen und zu formen ist es, das Entwickeln des Lebens zu sehen und daran teilzuhaben. Es gibt soviel zu beobachten.
Gruß, Silke.