Hallo liebe ErdbeereKiwi,
deine Frage hat mich sehr bewegt, denn ich mache jedes Mal, wenn ich ein hilfloses Taubenkind aufgenommen und wieder frei gelassen habe, ähnliche Fragen und Sorgen durch. (Zur Zeit sowieso, weil ich vor zwei Tagen wieder ein aufgepäppeltes Taubenkind frei gelassen hatte). Deswegen informierte ich mich intensiv über das Leben und Verhalten von Tauben, meist in Taubenzüchter-Foren, wobei Stadttauben nochmals etwas anderes sind.
Zu deiner Frage: Zunächst ist es schön und typisch, dass das Taubenkind eine entsprechende Bindung zu seinem neuen Zuhause, nämlich deiner Wohnung, aufgebaut hatte und dass es sich auf deinem Balkon gemütlich eingerichtet hatte. Die Bindung entstand, weil es noch sehr jung war, als du es aufgenommen hattest. Wenn man ältere Tauben aufnimmt, z. B., weil sie flügge wurden und nicht mehr in ihr Nest hochkommen, sondern am Boden hocken, sind sie bereits sozialisiert und wollen ziemlich bald, wenn sie bei mir zu Hause Kräfte getankt hatten, wieder hinaus zu den anderen Tauben. Ich lasse sie erst frei, wenn sie gut fliegen können, Muskeln aufgebaut haben, zugenommen haben, ihr Federkleid imprägniert (mit Taubenbädern) und voll befiedert sind. Dann werden sie auch sehr unruhig und wollen in die Freiheit, aber absolut.
Nach meiner Information im Internet haben (laut Taubenzüchtern) "nur" die Brieftauben das entsprechende Ortungssystem, das ihnen den Weg nach Hause weist. Und das wohl auch nicht immer. Jedoch hatte eine meiner Stadttauben, die ich hier flügge werden ließ und mit Telefon-Nummern-Ringen an den Füßen versah, den Weg zurück in den Stadtpark gefunden, wenige Tage später sah ich es dort fröhlich mit den anderen mitpicken. Gleichzeitig weiß ich realistisch, dass das Stadttaubenleben so hart ist, dass nur höchstens 10 Prozent aller Jungvögel das erste Jahr überleben (das ist aber z. B. bei Blässhuhn-Küken genauso).
Das bedeutet: Immer, wenn man ein Taubenkind zurück in die Freiheit lässt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man es in den ziemlich sicheren Tod schickt. Besser wären Taubenhäuser, wo es geborgen leben kann und auch manchmal Freiflug hat (außer in den Handicap-Taubenhäusern, die bleiben einfach dort in der Großvolière).
Ich hatte hier bei mehreren Taubenhäusern gefragt, ob sie mein Jungtier jetzt aufnehmen, alle lehnten wegen Aufnahmestopp ab. Auch eine Wildvogelstation in der Nähe hat nun 20 Stadttauben in der Volière und findet keinen Gnadenhof mehr, der sie aufnimmt. Würden sie sie aus der Volière lassen, dann würden sie einfach dort bleiben, weil sie die Auswilderungsvolière als ihren "neuen Taubenschlag" betrachten würden. (Kurze Zwischenfrage: Wohnst du zufällig auch am Bodensee?).
Ich fragte bis an die 100 km entfernt an, keiner wollte mein Taubenkind aufnehmen und so wusste ich: Bei Freilassung könnte es Glück haben und weiter leben, oder aber innerhalb kurzer Zeit den Tod finden, sei es Hungertod, Fressfeinde-Tod oder anderweitiger Unfall. Es fällt mir brutal schwer, diese Tiere wieder auszuwildern, gleichzeitig werden sie hier bei mir irgendwann todunglücklich, weil sie alleine sind.
Oft sind es die Krähen, die sie in Gruppen umzingeln und kurzerhand töten, manchmal der Sperber, seltener Autos (Tauben leben gerne weit oben, außer sie picken in der Gruppe), und so weiter. Ich bringe es trotzdem nicht über das Herz, sie hier einzeln in der Wohnung zu halten, denn sie wollen irgendwann unbedingt hinaus und signalisieren mir das deutlich: Da wird den ganzen Tag hektisch zum Fenster geflogen und hinaus geguckt, es wird nicht mehr gepickt und auch nicht mehr gebadet, wenn man das Vogelbad anbietet, da wird gepiepst und nach anderen Tauben gerufen, man selbst gerät komplett in den Hintergrund, übrigens auch, wenn sie nur zu zweit sind, wie ich es hier schon hatte. Das ist kaum auszuhalten, so dass man irgendwann die Balkontüre öffnet und sie fliegen lässt, natürlich immer mit einem Teller Körner auf dem Balkon, falls es Hunger bekommt. Zurück kam bisher nie eine, aber ich sah sie gegenüber auf dem Dach bei den anderen Tauben (mit meinem Fernglas). Gefangenschaft ist nicht wirklich schön für sie und Stadttauben nehmen das Angebot an, möchten aber irgendwann wieder frei sein.
Meine Taubenkinder fanden, wie gesagt, bisher immer in einer Gruppe auf dem Dach gegenüber ihren Anschluss, nur dieses Mal ging es schief, weil mein Taubenkind bei Abflug sofort von einer Krähe gejagt wurde, ich weiß nicht, ob es das geschafft hat. In den Stadtgarten zurück bringen wollte ich es auch nicht, weil dort drei Krähen auf höchst "professionelle" Weise die diesjährigen Jungtauben (auch mal ältere Tauben) umzingeln und kurzerhand töten, meist mit Kopfabriss. Nun waren hier auch die Krähen, aber das konnte ich nicht wissen. (Und es gibt ja auch Taubenfreunde in der Stadt, die ihnen regelmäßig gesunde Körner anbieten, ein Nachbar hier gegenüber zum Beispiel schüttet zweimal am Tag eine Ladung Körner aus dem Fenster, die Tauben warten dann schon).
Dein Taubenkind würde auf jeden Fall wieder zurück zum Hochhaus und auch zum Balkon finden, wenn es das wollte. Es ist davon abgeflogen und wird sich den Weg merken können. Den Weg NICHT zurück fände es zum Beispiel, wenn du es einpackst und irgendwo wieder heraus lässt. Das schaffen wohl nur Brieftauben. Auch das Taubenkind, das ich damals im Stadtgarten wieder gefunden habe, das also zurück zur Familie geflogen war, kannte den Weg, denn ich trage die Taubenkinder zu Fuß im Arm (vorne an meiner Brust) nach Hause, wo sie sich den Weg einprägen. Und man sieht genau an ihrem Verhalten, dass sie sich den Weg merken wollen, sie gucken dann sehr aufmerksam auf den Weg und die Umgebung, während man sie nach Hause trägt.
Deine Frage betreffend weiß ich aus vielen Taubenzüchter- und halterforen folgendes: Eine Taube bleibt nie alleine. Sie leiden unter dem Alleinesein unendlich und brauchen, um sich einigermaßen sicher zu fühlen, mindestens fünf weitere Tauben, mit denen sie durch die Stadt oder Lande ziehen. Das bedeutet: Wenn z. B. jemand in diesen Taubenhalterforen fragt, ob er sich ein Pärchen kaufen kann und mit ihm züchten, es aber auch schon frei fliegen lassen kann, kommt stets die Antwort: "Unter sechs Tauben verlierst du sie. Dann schließen sie sich den Stadttauben an".
Dein Taubenkind hat sich, flügge, wie es nun einmal war, eventuell schon sehr erschreckt, als das Gewitter kam, aber Tauben bekommen stets einen Schreck. Es gibt Tauben, die so behütet und beschützt in der Volière ihrer Züchter aufwachsen, dass bei ihrem ersten Ausflug ein auffliegender Spatz genügt, um ihnen den Schreck des Lebens zu verschaffen, so dass sie entweder panisch in die Luft fliegen, oder aber sofort in ihren Schlag zurück.
Es ist gut möglich, dass dein Taubenkind sogar vor dem Gewitter schon abgeflogen ist, um sich einer Taubenschar anzuschließen. Und es ist gut möglich, dass es noch einige Jahre leben kann, denn du hast ihm eine gute Futtergrundlage verschafft, dass es kräftig war. Ich kann zu deiner Beruhigung sagen, dass das Taubenkind den Aufenthalt bei dir genossen und gedankt hat, aber dass es nie eine echte Bindung zu einem Menschen aufbauen wird. Dass es dort lange auf deinem Balkon lag, lag daran, dass es sich noch nicht reif genug für den Abflug gefühlt hatte. Am Tag, als das Gewitter kam, kann es sich rein zufällig reif genug gefühlt haben, nicht mehr zurück in die Wohnung, sondern nach außen zu fliegen. Aber den Weg findet es zurück, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es wird jedoch die Taubenschar immer bevorzugen.
Ich selbst tröste mich bei der Freilassung von Jungtieren, die mich jedes Mal in eine Krise stürzen, mit dem Gedanken, dass ich einem Taubenkind eine gute Grundlage für das erste Überleben geschaffen habe. Und ich selbst wünschte mir nichts sehnlicher, dass jedes Taubenkind, das ich finde, in einem Taubenhaus unterkäme. Aber wir kämpfen hier seit Jahren um ein Taubenhaus und finden wenig Gehör bei der Stadt.
Ich wünsche dir alles Gute und vielleicht kommt dein Täubchen mal mit einem Partner vorbei. Aber da mach dir nicht all zu viel Hoffnung. Kaum kommt es in der Taubenschar an, bist du eigentlich vergessen und zwar für immer.