Vögel und Beziehungsdefizite
Hallo,
ich gehöre zu denen, die Lagos Ausführungen mit Interesse zur Kenntnis genommen haben. Einiges hat er in meinem Augen wirklich gut formuliert und gefallen hat mir, dass er auch seinen eigenen Werdegang kritisch beleuchtet hat
Ich war ein wenig erschrocken, wie negativ manche darauf reagiert haben. Dann habe ich mir gedacht, dass sie vielleicht als erfahrene Vogelhalter und -züchter anderes aus Lagos Text herausgelesen haben als ich (meine sehr bescheidene Erfahrung beschränkt sich darauf, dass ich einige Jahre lang Kanarien und Zebrafinken hielt und seit kurzem nun zwei Wellensittiche).
Und dann gibt es natürlich generell die Gefahr von Missverständnissen. So habe ich z.B. Lagos Formulierung:
"nicht mit ihnen Beziehungsdefizite kompensieren" nicht so aufgefasst, dass Lago sagen wollte, alle Vogelhalter seien "beziehungsdefizitär"
, sondern dass solche Menschen,
die Beziehungsdefizite haben, bitte nicht ihre Vögel zur Kompensation derselben benutzen bzw. missbrauchen sollten. Das ist meiner Meinung nach ein Unterschied. Natürlich kann ich nicht sicher wissen, ob ich Lago damit richtig verstanden habe oder ob doch Mottes Interpretation seiner Absicht näher kommt.
Aber davon abgesehen finde ich, dass dieser Punkt, nämlich die Kompensation von Beziehungsdefiziten durch Haustiere, in unserem speziellen Fall, Vögel, noch eine nähere Betrachtung verdient.
Wenn man davon ausgeht, dass mit Beziehungsdefiziten nicht die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit gemeint sind, befriedigende menschliche Beziehungen einzugehen, sondern die mangelnde
Gelegenheit bzw.
Möglichkeit, dann wird man sagen müssen, dass ein größerer Teil der Bevölkerung in unserer Gesellschaft an sochen Beziehungsdefiziten leidet.
Ein Beispiel sind die zahlreichen Großeltern, deren Kind(er) weiter weg wohnen und die ihr einziges Enkelkind selten sehen und in die Arme schließen können. Das Bedürfnis nach einfachen Beziehungen, wo man einander öfter mal "knuddelt" und umsorgt, bekocht usw., ist bei ihnen frustriert und da kommt dann (von ihnen selbst oder durch andere, z.B. die Kinder) öfter der Gedanke auf, dass die Anschaffung eines Haustieres die richtige Lösung sein könnte. Das kann dann, wenn etwa die körperliche Fitness für Spaziergänge mit einem Hund nicht mehr gegeben ist, auch der Gedanke an einen oder mehrere Vögel sein.
Dieser sogenannte "therapeutische" Effekt von Haustieren gegen Einsamkeit, Konzentration auf die eigenen Schmerzen und Beschwerden und gegen Depressionen wird ja gerade in der heutigen Zeit stark propagiert.
Es wäre von daher sicher nicht unangebracht, einmal intensiver darüber nachzudenken, ob die Idee als solche verwerflich ist oder ob es eher auf die konketen Bedingungen ankommt, unter denen Vögel, die zur Aufmunterung und zur Erfüllung des Wunsches nach Gesellschaft von etwas "Lebendigem" angeschafft werden, gehalten werden.
Natürlich könnte man sagen, dass die Gesellschaft sich so ändern muss, dass Menschen prinzipiell weniger in Gefahr sind, Vögel und andere Haustiere als Ersatzpartner bzw. Ersatzkinder zu betrachten. Aber das scheint mir zumindest kurz- und mittelfristig nicht realisierbar.
Eure Gedanken dazu würden mich interessieren. Auch, wenn ihr nicht antworten möchtet, danke ich jedenfalls fürs Lesen
Viele Grüße, Clelia