Hallo Tamborie!
Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass diese "Fehlprägung" (bin mir nicht sicher, ob das dafür das richtige Wort ist, siehe dazu weiter unten) bei
Handaufzuchten mit Konsequenz und Zurückhaltung auf menschlicher Seite über die Jahre hinweg verschwinden kann.
Ich habe in einer sehr ähnlichen Situation wie bei dir eine Blaustirnamazone selbst von Hand aufgezogen, da das Brutpaar den anderen Nestling getötet und das zurückbleibende Tier nicht mehr gefüttert hat. Ich habe die Amazone mit etwa 4 Wochen zur
Handaufzucht übernommen (der Züchter hatte noch keine Erfahrungen damit gesammelt und aus beruflichen Gründe keine Zeit zur eigenen
Handaufzucht). Der Vogel wuchs bei mir also mangels anderer Möglichkeiten leider einzeln in der
Handaufzucht auf, hatte aber sobald er bereits kräftig genug war sehr viel Kontakt zu meinem adulten Venezuela-Paar. Heute lebt die Blaustirn zusammen mit einem artgleichen Partner und den Venezuela`s in einem separaten Vogelraum (4 m x 3,3 m wie eine
Voliere eingerichtet). Über die Jahre hinweg - sie wird jetzt bald 4 - wurde sie zunehmendst unabhängiger vom Menschen, "forderte" keine Aufmerksamkeit mehr und hat sich in ihrem Verhalten total auf die anderen Amazonen ausgerichtet. Der einzige offensichtliche Unterschied zu meinen anderen (Naturbrut-) Amazonen ist der, dass sie während der Brutstimmung weit aggressiver gegen mich reagiert als alle anderen. Ich denke, da sie als
Handaufzucht von Anfang an keinen "Respektabstand" vor Menschen kannte, wird sie auch während der Brutzeit wesentlich schneller zum Angriff übergehen, bis jetzt sieht es jedenfalls leider so aus. Ich kann aber damit leben, zumindest ist es kein wirklich großes Problem bei der Pflege, solange die Amazonen ihr Zimmer für sich haben und kein erzwungener, direkter Kontakt stattfindet.
Ähnliche Erfahrungen zum "Verwildern" von
Handaufzuchten habe ich übrigens auch bei Wellensittichen ("Notfall-
Handaufzuchten", wegen sehr kritischer Situation teilweise sogar vom Ei ab) gemacht. Von den zwei handaufgezogenen Tieren ist heute keiner mehr am Menschen interessiert, ich würde sie nicht mal als unbedingt zahm bezeichnen. Auch sie wurden so früh wie möglich zuerst mit einem adulten Sittichpaar zusammengebracht und dann später in einen kleinen Schwarm integriert.
Deshalb meine Vorsicht, wenn es um die Verwendung von Begriffen wie "Prägung" geht. Eine Prägung ist soweit ich informiert bin nicht rückgängig zu machen. Insofern kann ich mir nicht erklären, wie selbst
Handaufzuchten ab dem Ei wieder zu einem scheinbar "normalen" Sozialverhalten zurückfinden können, wenn es sich dabei wirklich um fehlgeprägte Tiere handeln soll. Eine (wie ich finde wichtige) Einschränkung muss ich aber erwähnen - ob diese Vögel zur Zucht geeignet wären, kann ich nicht sagen. Ich bin mir darüber hinaus natürlich bewusst, dass das alles auch ziemlich widersprüchlich ist. Ich habe selber zum Teil wirklich extrem menschenfixierte (Einzel-)
Handaufzuchten gesehen und besitze andererseits einen Vogel, der unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen ist, dabei aber nicht mal bei guten Willen als zahm anzusprechen ist (außer futterzahm). Eine Erklärung für solch unterschiedliche Erfahrungen habe ich nicht.
PS: Entschuldigung im voraus für diesen Roman, vielleicht wird aber daraus auch ersichtlich, dass ich definitiv nicht der Meinung bin, dass jede
Handaufzucht einen verhaltensgestörten Vogel zum Ergebnis hat. Es geht mir auch gar nicht darum, handaufgezogene Papageien "schlecht" zu machen (nur als Anmerkung, weil ich mittlerweile den Eindruck habe, dass ich relativ oft in diese Richtung falsch verstanden werde). Mir geht es vorrangig um den Sinn und Unsinn von diesem
Handaufzucht-Theater, wie es bei Großpapageien in den letzten Jahren wegen Zahmheit, wie ich es nennen würde "Kuscheltier-Syndrom" (bei per Definition Wildtieren wie Papageien) und Geld aufgeführt wird. Man sucht sich bei einigen Papageienarten in manchen Gegenden verrückt, wenn man Natubruten will und gilt damit für manche Züchter sogar als höchst "unmodern" (persönlicher Eindruck bei meiner Suche nach einer Grünflügelara-Henne). Ich weiss nicht, wie das erst in ein paar Jahrzehnten aussehen soll, wenn man weiter in diese Richtung steuert.
Mfg,
Doris