Hallo Gaby!
Wie versprochen – deine beiden Jungs sind auf dem Heimweg. Der Begleitflieger hat sie vorhin abgeholt. Das Gepäck werde ich morgen bei der Bahn aufgeben. Dann wirst du es übermorgen im Haus haben. Denn fürs Landen von Privatflugzeugen ist unser Park nicht ausgerichtet. Ich habe übrigens ein bisschen Geld beigelegt, weil mir etwas zu Ohren und Augen gekommen ist von einem Brillant-Diadem und von einer Playstation und Videospielen. Ich denke, es hat keinen Sinn, im Nachhinein irgendwelche Amazonen-„Ohren“ langzuziehen, und deshalb regeln wir das Problem besser unter uns. Der arme Rory käme sonst ja nie mehr aus dem Stall heraus, wenn er all die Unkosten abarbeiten müsste. Oder als Kanonenkugel bei Zirkus Krone: Denk mal, wie das Gefieder litte!
Unsere letzten 24 Stunden zu fünft habe ich knapp, aber dennoch überlebt. Dabei hätte ich eigentlich wissen sollen, dass der dicke Knaller noch auf mich warten würde. Wohl gerade deshalb fing alles so harmlos an. Gestern Nachmittag sind wir aufs Land gefahren zum Erdbeeren sammeln. Es gibt hier Plantagen, auf denen man gegen einen Festbetrag so viele Erdbeeren mitnehmen darf, wie man ernten kann. So was lasse ich mir doch nicht entgehen, wenn ich vier Helfer im Hause habe! Nur auf eines habe ich Wert gelegt: Jeder musste sich ein Band aus blauer Signalfarbe um den Hals binden lassen. Das gab vielleicht ein Gemecker:
„Wie sieht das denn aus? Alle werden uns anglotzen! Wozu soll das überhaupt gut sein?“
„Das ist dafür, dass ich euch jederzeit wiederfinde. Ich weiß doch, wie es war, als Leo und Cleo hier waren: Da habt ihr euch auch alle ins Grün gedrückt, und ich hab wie blöd suchen müssen. Und am Ende habt ihr mir auch noch einen Eisbecher erpresst. Ne-ne, diesmal will ich euch im Auge behalten zwischen den Beeten.“
„Ooooch, das war doch neulich. Heute würden wir so was nie tun. Wo denkst du hin? ... ... ... ... Ei...s?“
Also, wir los in der Straßenbahn bis zum Busbahnhof und mit dem Bus weiter aufs Land. Dort durften wir uns einreihen in den Strom der Korb- und Eimermenschen. Doch auf dem riesigen Feld verlief sich alles. Wir hatten unser Eckchen für uns ganz allein. Zwischendurch naschen war erlaubt, aber ich hatte meinen vier Helfern ausdrücklich gesagt, dass ich sie ohne Skrupel vor dem Nachhausefahren in der Toilette unter den Wasserhahn halten würde, wenn sie nicht aufpasssten und sich den Erdbeermatsch vorne auf die Brust drückten. Das hat gewirkt, keiner benahm sich daneben. Ich hab die Erdbeeren
abgepflückt und die Grünen haben sie am Stengel mit dem Schnabel
abgeknipst. Das ging gut. Am frühen Abend waren wir wieder zu Hause – mit einigen Kilo Früchten im Gepäck. Mein Personal jammerte über eingeschlafene Füße, Hunger hätten sie keinen, im Übrigen wäre man so kaputt und müde, dass man nur noch dösen wolle. Was? Dabei hatte ich doch für den Abend einen Kinobesuch geplant. – Oh ne, Kino? Da müsse man sich ja aufraffen, sich frisch machen, den ganzen Abend still sitzen und die Augen offen halten – nä, das sei zu viel des Guten, ob das denn unbedingt sein müsse, ausgerechnet heute, wo man so platt wäre und nur noch schlafen möchte?
Tja, Gaby, du magst mich für naiv halten, aber ich bin tatsächlich darauf reingefallen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass dies eine Falle war. Doch ich war so angetan von meinen vier Zöglingen, wie sie so matschig in den Seilen hingen nach der vielen Arbeit an der frischen Luft, dass ich das Schauspiel nicht durchschaute. Ich hab mich sogar noch belatschern lassen, höchstselbst das Haus zu verlassen – ohne die vier Grünen, die daheim bleiben wollten. Es hieß nämlich, sie würden sowieso gleich ins Bett gehen, da brauchte ich nicht auf Zehenspritzen herumlaufen, sondern könne mich doch auch mal amüsieren gehen, allein, ganz in Ruhe.
Und so kam es, dass ich gestern Abend tatsächlich eine Freundin besuchen gegangen bin. Die Voli hatte ich offen gelassen, weil der arme Lee oben drauf eingeschlafen war und ich ihn nicht extra wecken wollte. Als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog, konnte ich mich noch stolze Eigentümerin eines unversehrten Wohnzimmers nennen.
Als ich nach Mitternacht heimkehrte – leider nicht mehr. Liebe Gaby, deine Warnung erreichte mich zu spät. Wie konnte ich ahnen, dass Rory und Lee Schampus, CDs und Knabberzeug mitgebracht hatten? Das Wohnzimmer sah aus wie nach der Entgleisung vierer durch Alkohol enthemmter Amazonen. An den Lampen gingen Luftschlangen, auf dem Soja lagen fettige Erdnussflips, ein Cola-Fleck zierte den Teppich, der Rest Kartoffelsalat von gestern klebte an den Volistäben, ein Venta-gequirtler Rum-Duft hing in der Luft, und die Kanaries hockten verschreckt in einer Ecke und guckten mich mit aufgerissenen Augen an. Nach einer ersten Tätervernehmung stellte sich heraus, dass man „Völkerball“ gespielt hatte. Wer jetzt an ein harmloses sportliches Gruppenspiel denkt, der irrt. In Wahrheit hieß Völkerball nämlich folgendes: Man hatte sich an drei Seiten rund um die Kanarien-
Voliere postiert, jeder hielt einen Teelöffeln mit Joghurt in der Hand und ... versuchte damit einen der herumhüpfenden Kanaries abzuschießen!
Hat man da Worte? Später fand ich obendrein mein gutes Kaffeeservice (das von der Oma geerbte) im Arbeitszimmer auf dem Fußboden verteilt. Das hatte man genutzt zum Weitwurf: Erst Bananenscheiben, dann Walnüsse (mit Schale) in die zarten Porzellantassen gepfeffert (Max soll Sieger gewesen sein, hab ich gehört). Eine Tasse hat nun einen Sprung und der Rest ist mit Matsch überzogen – ebenso wie der Teppich und die umliegenden Schränke.
Ich muss zugeben, in dieser Situation überkam mich der fast unwiderstehliche Drang nach körperlicher Züchtigung. Ein geradezu irres Lachen entfuhr mir sogar, als ich mir vorstellte, wie ich für meine vier Lieblinge das Anmeldeformular ausfüllte zum Sozialeinsatz in einer Hühnerlegebatterie: Hennen Mut zusprechen, Streit schlichten und Neuankömmlingen die Reviere zuteilen. Vier Wochen lang. Das dürfte reichen, um das Weltbild ein wenig gerade zu rücken.
Vorerst hatte ich mir aber ein anderes Programm ausgedacht. Mehr praxisbezogen und sofort umsetzbar. Ich hoffe, liebe Gaby, du wirst mir Recht geben, dass hier hartes Durchgreifen erforderlich war.
Ich hab also erst mal gar nichts gesagt, sondern nur die Kanaries vom Joghurt befreit und die puppenlustige Amazonengesellschaft ins Bett geschickt. Wahrscheinlich dachten sie, sie wären mit einem blauen Augen davongekommen. Aber weit gefehlt. Am nächsten Morgen (am Sonntag, wohlgemerkt) Punkt sechs (!) Uhr morgens hieß es: „Aufstehn! Aufstehn! Aufstehn! Die Arbeit ruft!“ Die Reaktion kam wie erwartet:
„Oh ne, lass doch das Licht aus.“
„Wieso schreist du denn so, ich bin doch nicht schwerhörig?“
„Mein Kopf.“
„Mein Hals.“
„Mein Rücken.“
"Huch, in meinem Bauch schnubelt’s.“
„Ich hab Durst.“
„Lass mich weiter schlafen.“
Nix da! Los, los aufstehen und beim Aufräumen helfen. Das meiste habe ich zwar trotzdem allein machen müssen, aber es ging mir ja in erster Linie um den symbolischen Akt.
Danach allerdings: Alle Mann antreten zum Körner sortieren. Jawohl. Wie Aschenputtel seinerzeit die Linsen mussten die vier das Körnerfutter sortieren. Einen Sack Bird-Box-Mischung schön in die Bestandteile zerlegen: den Kardi hierhin, die
Sonnenblumenkerne dorthin, den Reis in die grüne Schale ... genau das Richtige als Strafe für delinquente Brummschädel, denn da hat man Zeit, die Kopfschmerzen so richtig voll auszukosten.
Anschließend duschen in der Badewanne, und zwar ohne Rücksicht auf eventuelle Vorlieben oder Abneigungen. Erst die drei Jungs gemeinsam, dann Mia allein, aber alle unter kaltem Wasser („Oh, Mann“). Ja, da erwachten langsam wieder die Lebensgeister, nicht wahr?
Dann trocknen, essen und fertig machen zum ... Kirchgang. Richtig gehört – zum Kirchgang. Ich fand, es fehlte noch was, das i-Tüpfelchen, die ultimative Chance zur Einkehr, zur inneren Auseinandersetzung mit dem eigenen Sündendasein und zum folgerichtigen Schritt, nämlich dem Bekenntnis: „Ja, ich habe gefehlt, ich bitte um Verzeihung, ich gelobe Besserung.“
Gleich nebenan ist eine katholische Kirche, also sind wir dorthin gegangen. Selbstverständlich hatte ich meine vier flauschigen Begleiter vorher streng instruiert: Nicht herumfliegen, nicht die Bänke annagen, nicht dazwischenschreien, nicht die Lieder falsch mitgrölen, nicht die übrigen Kirchgänger ansprechen oder anknabbern. Am besten also ... still sitzen bleiben und dem harren, was da kommt.
Jo. Ich war richtig stolz auf meine vier. Wie sie tatsächlich so lieb dort hockten: zwei links, zwei rechts neben mir auf der Kirchenbank, mucksmäuschenstill und ohne auch nur einmal empörte Blicke auf sich zu ziehen – geradezu mustergültig!
Allerdings nur solange, bis der Klingelbeutel rumging. Kaum hatte ich nämlich den Korb in der Hand ... sah ich nur, wie auf Kommando vier grüne Nacken im Kreis hinabtauchten, mit den Schnäbeln in den Münzen wühlten, und dann musste ich auch noch Zeuge werden von einem Satz, der da lautete: „Klasse ... ich nehm dann Stracciatella, Mokka und Heidelbeere ... mit doppelt Sahne!“
Nur die instinktive Erinnerung an vor langer Zeit gelernte soziale Umgangsformen hielt mich davon ab, „Du kommst so...fort da raus!“ zu brüllen, und zwar bis hinten hin zum Altar. Weißt du, manchmal fühle ich mich einfach nur müde, alt, ausgelaugt und sooo müde. Kennst du das auch?
Na ja, als Amazonenhalter muss man mit gewissen Unzulänglichkeiten leben; das haben wir ja vorher gewusst. Und unterm Strich war’s ja auch sehr schön mit deinen beiden. Dass Rory und Mia allerdings zu intimeren Kontakten bereit wären, wage ich zu bezweifeln. Mia hat mir vorhin verraten, dass sie Rory sehr attraktiv finde, aber der nötige Funke sei nicht übergesprungen. Ich nehme an, es sind mehr die intellektuellen Gemeinsamkeiten, die sie zusammengeführt haben.
Lee hingegen hat Max gewarnt vor Frauen („Weibern“) mit großer Verwandtschaft, insbesondere wenn sie weiß sind. Er meinte, es würde jeden noch so geduldigen Mann das Wasser abgraben, wenn ständig Mutter, Schwestern, Tanten und Cousinen nebenan hockten, sobald man allein sein wolle mit seiner Liebsten. Da könne man schnell jede Lust verlieren. Man fühle direkt die bohrenden Blicke im Nacken: Wird er unsere Plüschie glücklich machen? Kann er sie ernähren? Ist er großzügig? Wird er ein guter Vater sein? Nee, meint Lee – dann doch lieber Single und es ordentlich krachen lasse. Mit Gaby und Rory zusammen sei das mehr als okay. Gott sei Dank hatte Max ihm verschwiegen, dass wir auch eine Plüschie bei uns wohnen haben. Aber die hatte ich solange in die Schublade verbannt. Wie sich zeigte, war das auch gut so. Lee ist wohl diesbezüglich gezeichnet fürs Leben.
So, liebe Gaby, jetzt bist du im Bilde. Ein paar Stunden noch, dann kannst du deine Jungs wieder in die Arme schließen. Trotz allem: Sie sind und bleiben natürlich immer willkommen bei uns!
Alba schrieb:
Das Max das Mittelstreckenfliegen gewonnen hat kann ich gar nicht glauben - Lee ist doch flugtechnisch voll im Training.
Das siehst du richtig. Nur: Max kennt den Weg.
Viele Grüße
Rinus.
P.S. Eins sag euch allen: Nachdem ich so viel geschrieben habe: Wenn jetzt noch jemand ein einziges Mal meckern sollte, dass ich zwischendurch eventuell mal verschwunden bin aus diesem Thread, weil ich anderes zu tun habe – dann seht ihr mich erzürnen!