Hallo Gisela!
Deine beiden Kinderchen sind ja zauberhaft! Einfach zum Verlieben! Farblich so fein gezeichnet und grazil im Körperbau – so ganz anders als meine Wuchtbrummen. Und dann die guten Umgangsformen und die feine Aussprache! Da bin ich richtig froh, dass Mia und Max ihre Lehrmeister gefunden haben.
Im Moment sitzen die vier beim Brunch und Coco erzählt von Tolstois „Krieg und Frieden“, das er neulich gelesen hat und wie gut es ihm gefällt in seinem klassischen Aufbau, der brillanten Erzählkunst und der philosophischen Aussage. Mia hängt an seinen Lippen.
Aber nun zu gestern. Wie ich schon schrieb, musste alles ganz fix gehen. Wir standen um kurz nach 17.00 Uhr am Bahnhof, wenig später fuhr Jupps Bierlaster vor. Übergabe, kurze Begrüßung, schnell nach Hause und fertig machen zum Aufbruch ins Fußballstadion mit Cora und Max. Doch was sollte mit den beiden Zurückbleibenden geschehen? Ich hatte ja nur Karten für zwei Amazonen bekommen. Sollte ich Coco und Mia einem langweiligen Abend daheim überlassen, während wir anderen uns amüsieren gingen?
Ach, das sei kein Problem, hieß es. Sie seien sowieso ziemlich müde. Noch eine Kleinigkeit essen und ein bisschen quatschen, und dann würden sie auch schon schlafen gehen. Vielleicht könnte ich ein paar Schnittchen hinstellen? Noch ein paar Gürkchen dazu und eventuell ein paar von den wunderbaren Kugeln aus der Honigmelone ausstechen? Und die Lampe ein wenig runterdrehen, damit es nicht zu grell wäre im Zimmer? Oh ja, bitte noch eine CD mit sanfter Musik auflegen (gerne Soul) – zum Einschlafen für Coco, der das so gewohnt sei von zu Hause.
Aber nix da! Ich kenne dies samtige Gesäusel! Hatten wir alles schon. Einmal fällt Muttern darauf rein, aber nicht zweimal. Kaum ist man nämlich aus der Tür raus, knallen die
Korken und die Burschen geben sich die Kante. Fragt mal Rory und Lee. Ne-ne, für meine beiden Schlafmützen hatte ich ein anderes Programm vorgesehen: Freizeitheim. Meine Freundin arbeitet dort, betreut ehrenamtlich die Senioren und hatte sich bereit erklärt, bei dieser Gelegenheit auch Coco und Mia zu beaufsichtigen. Danach sollte sie die beiden Grünen zum Chinesen-Imbiss an der Ecke bringen, damit wir sie dort auf dem Nachhauseweg vom Stadion aufsammeln könnten.
Wie ich aber leider heute morgen feststellen musste, hatte mein Abend-Entertainment lediglich einseitige Begeisterungsstürme ausgelöst, nämlich nur bei den Rentnern. Und dies, obwohl es einen Film zu sehen gab („Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann), eine schöne Lichtbilderreihe gezeigt wurde („Der Tessin im Hartung“), aufgeschlossene Herren von der Ardennen-Offensive im Krieg zu berichten wussten, während die Damen Tipps gaben zum Einwecken von Steinobst oder ihre Fingerkünste an der Strickliesel demonstrierten, und zum Schluss wurde sogar ein flotter Tanztee veranstaltet mit Rumba und Cha-Cha-Cha.
Bedauerlicherweise war es allerdings zu einem fatalen Irrtum gekommen, denn die alten Herrschaften hatten gedacht, ihre beiden befiederten Ehrengäste wären in Wahrheit das Begleitpersonal der Sozialarbeiterin, die einmal wöchentlich den Senioren verschiedene Tiere mitbringt zum Streicheln. „Taktile Erlebnispsychologie“ nennt sich das. Und so wurden knochige Hände nach Mia und Coco ausgestreckt, Handflächen über ihre Köpfe geschrubbt, Flügel auseinander gezogen, bis sie zurückzwitschten, und aus nie enden wollenden Kukidenkt-Mündern all jene Sätze gesprochen, die jede Amazone auf die Palme bringen:
„Ja, gkss-gkks-gkks, sag mal was!“
„Lora! Lora! Lora!“
„Kannst du auch fliegen?“
„Wie heißt das, was du bist?“
„Ihr seht ja ganz unterschiedlich aus“
„Woran erkennt man, dass ihr Männlein und Weiblein seid?“
„Soooo alt könnt ihr werden?“
„Seid ihr teuer?“
„Kommt ihr nächste Woche wieder?“
Wie ich hörte, sind Coco und Mia ziemlich stinkig geworden, und fast wäre die Sache ins Aggressive gekippt, als Mia einer netten alten Dame den Ball zurückgab und sagte:
„Oma! Oma! Oma!“
„Kannst du auch gehen?“
„Du siehst ja so komisch aus mit deinem Hut. Huch - Entschuldigung! Das ist ja deine Perücke!“
„Soooo alt könnt ihr werden?“
„Kriegst du viel Rente?“
„Bist du nächste Woche noch da?“
Ich glaube, es war weise, dass sich meine Freundin spontan entschloss, es an dieser Stelle gut sein zu lassen und Coco und Mia schnellstens zum China-Imbiss zu bringen. Dort trafen wir sie nach dem Fußballspiel. Hockten da wie Ente süß-sauer. Jetzt wissen wir, warum.
Bei uns dreien, bei Cora, Max und mir, war es dagegen ein sehr schöner Abend gewesen. Forderations Cup: Brasilien gegen Japan. Dass sich keine Amazone für Japan interessiert, kann ich verstehen, aber ich hatte doch mehr Begeisterung für Brasilien erwartet, schließlich gibt es Verbindendes: die lateinamerikanische Heimat und so. Aber Max schrie nur immer „Mechico! Mechico!“ (in Anlehnung an gestern, wo Mexiko spielte) und Cora schwenkte den MSV-Schal und brüllte „Duisburg! Duisburg!“. Das ging so lange gut, bis mein Nebenmann mich anstieß und fragte, wo man so was kaufen könne, solche Blech-Papageien mit Saugnäpfen unter den Füßen zum Auf-die-Schulter-Setzen. Und ob es die auch mit anderem Text gebe, zum Beispiel mit „Werder!-Werder!“-Skandieren oder mit „Uwe! Uwe!“ Da war dann Schluss mit dem lustigen Amazonen-Opportunismus. Fortan heulten Cora und Max nur noch mit dem Rudel mit: „Brasiu! Brasiu!“ Ich hatte schon befürchtet, der trampelige Max würde nun erst recht kontern, und zwar mit „Dreeeesden!“ Ich glaube, dann wären wir glatt aus dem Stadion geflogen.
Jetzt sind wir aber schon wieder in Eile. Gleich müssen wir los zu „Continental“ wegen der Werksbesichtigung. Führungen werden eigentlich nur wochentags angeboten, doch ich hatte Glück, weil wir uns an eine Sonderführung anschließen dürfen: Geschäftsleute aus Kenia. Was hab ich geredet und gebettelt, damit dies endlich klappt und ich dem lieben Coco seinen Herzenswunsch erfüllen kann! Und was ist? Hier sitzen nur muffige Gesichter herum! Ich verstehe das nicht – deswegen war doch Coco extra zu uns gekommen, nicht wahr? Weil er unbedingt mal sehen wollte, wie LKW-Reifen hergestellt werden. Warum freut er sich dann nicht?
Liebe Gisela, ich melde mich morgen wieder. Hier läuft alles bestens. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, deine beiden wohlerzogenen Schätzchen vorzeitig nach Hause zu schicken. Sie benehmen sich doch nicht daneben!
Ach ja, wegen dieser kleinen Sache mit Cocos Lederhoseneinlage: Wir besitzen ein Bad – da kann man so was diskret erledigen. Max hat übrigens einen ähnlichen Anzug, auch aus Leder. Das hat ihn schwer beeindruckt. Wahrscheinlich hatte er gedacht, Coco käme hier irgendwie als Seppel-Opa an. Vielleicht noch mit Kamelhaarpuschen an den Füßen und mit „Galama“ im Gepäck. Jetzt ist Max einigermaßen geplättet und hält sich zurück mit dummen Kommentaren. Mia nennt ihn deswegen anerkennend „Mein Wattebäuschchen“.
Viele Grüße
Rinus