Der tote Vogel
Der tote Vogel
„Der kleine Vogel von unserm Nachbarkind,
- du weißt schon: Lena, die ich so lustig find', -
denk nur: das hat mir das Mädchen grad' gesagt,
das heißt, geweint hat sie, und ihr Leid geklagt:
als sie heut' morgen in seinen Käfig sah,
lag er nur da!
Erst letzte Woche, ich glaub' am Donnerstag,
fragte mich Lena, ob ich ihn sehen mag:
'In meinem Zimmer zeig' ich dir, wie er fliegt!
Von meiner Großmutter hab ich den gekriegt.'
Und seine Federn, die glänzten blau und rot -
nun ist er tot...
Er war so munter und hat ganz laut gepiept.
Sie waren Freunde, sie hat ihn so geliebt!
Sie gab ihm Wasser und grünen Blattsalat,
im weißen Sand lag stets frische Hirsesaat.
Warum, ach Papa, - er war doch noch so klein -
muss das so sein?"
„Ach, liebe Anna, ich sag' dir grad' wie's ist,
und ich verstehe, dass du so traurig bist.
Schau, alle Tiere, die Pflanzen und auch wir
bleiben ein Weilchen, doch nicht für immer hier.
Alles, was wir hier seh'n - einmal zerbricht's:
ewig ist nichts...
Tragt euren Vogel, du und das Nachbarkind,
'raus in den Garten, dort wo die Bäume sind.
Grabt mit dem Spaten zwei bis drei Handbreit tief.
Gebt ihn Gott wieder, der ihn ins Leben rief.
Deckt ihn dann zu - mehr könnt ihr wirklich nun
nicht für ihn tun.
Doch: was wir lieben, wird wieder aufersteh'n!
Das kann man freilich nur mit dem Herzen seh'n.
Das, was wir lieben, nimmt auch der Tod nicht fort,
in unsrem Herzen hat's einen sicheren Ort.
Denn was die Liebe in unsre Herzen schreibt,
das bleibt, das bleibt, das bleibt..."
(Peter Widenmeyer, Oktober 199