Hallo Herr C.,
Sie brauchen sich nicht vorzustellen, ich denke, viele wissen wer Sie sind.
Da ich ebenfalls vom Fach bin, gehe ich gern auf Ihre Aussagen ein.
Sie werden mir sicher Recht geben, dass man hier zunächst einmal differenzieren muss, denn so allgemein kann man die Aussagen die Sie zu dieser Schlußfolgerung führten
Und genau aus diesen Gründen ist die Einzelhaltung von Kanarienmännchen die vorzuziehende.
Hans C
nicht stehen lassen. Diese haben Sie daher in Ihrem Buch ja auch etwas näher erläutert, hier aber leider nicht.
Wenn ich Sie mal zitieren darf: „Ein
friedliches und stressfreies Nebeneinander bei Kanarienvögeln gibt es nur außerhalb der Brutzeit.“
Um, wie auch hier wieder zu sehen, Missverständnisse zu vermeiden, darf man dieses Thema nicht so allgemein behandeln, daher:
A)
Erst einmal sollte geklärt werden, für welchen Fall die Einzelhaltung empfohlen werden könnte, denn generell kann man dies sicher nicht empfehlen, da es sich bei den Kanarienvögeln ja durchaus um „soziale“ Tiere handelt, es sind ja keine Einzelgänger.
Sicher haben Sie größtenteils mit Ihren hier gemachten Aussagen Recht, in Bezug auf reine Käfighaltung ohne oder mit ungenügender Freiflugsituation bzw. unter falschen Haltungsbedingungen.
Bei solch viel zu engen, räumlichen Verhältnissen kommt es sicherlich zu Stress zwischen mehreren Tieren (mal ganz abgesehen davon, dass diese Haltungsform auch für ein Einzeltier Stress bedeutet). Lebenslange Isolation von Artgenossen macht auch krank.
B)
Dann muss sicher auch das veränderte Sozialverhalten im Jahreskreislauf eines Kanarienvogels berücksichtigt werden (Brutzeit mit ausgeprägtem Revierverhalten - Mauserzeit - Ruhezeit währenddessen unter richtigen Haltungsbedingungen ein soziales Gruppenverhalten, in der das Ausleben der komplexen intraspezifischen Verhaltensweisen durchaus wichtig für Physis und Psyche der Tiere ist, da sie die Lebensqualität steigern (Bsp. die Tiere fühlen sich in der Gruppe sicherer, sie können in der Gruppe innerartlich kommunizieren, von einander lernen, es tritt keine Langeweile/Vereinsamung auf, da die Gruppe natürliche „Beschäftigungsmöglichkeiten“ bietet uvm.).
C)
Als nächstes müsste man eigentlich auch zwischen Di- und Eustress unterscheiden, aber das würde in diesem Rahmen zu weit führen.
Nur ganz unerwähnt kann man es auch nicht lassen, darum hier nur kurz:
Handelt es sich um natürlicherweise auftretenden, vorübergehenden Stress zwischen Artgenossen, der durchaus nicht schädigend ist oder handelt es sich aufgrund falscher Haltungsbedingungen um schädigenden Dauerstress? Hier haben Sie leider nicht differenziert.
Der von Ihnen angesprochene soziale Stress taucht ja nur auf, wenn die Besiedlungsdichte bzw. Gruppengröße pro Raum zu groß ist. Oder anders gesagt, wenn die räumlichen Verhältnisse zu eng sind.
Dies äußert sich dann durch ständig erregte, unruhige und aggressive Tiere, was auf Dauer zu (gesundheitlichen) Problemen führt, z.B. verringerte Wachstumsrate, Geschlechtsreife tritt später ein, gestörtes Sexual-/Mutter- bzw. Elternverhalten (Junge werden angegriffen, verletzt, nicht versorgt etc). Auch weitere gravierende Schäden (z.B. chronische Erhöhung des Blutdrucks, Schädigungen von Herz, Niere usw.) entstehen durch Dauerstress.
Dies ist unbestritten und bei Revierverhalten in zu engen räumlichen Verhältnissen zu beobachten.
Bei ausreichenden Raumverhältnissen bzw. wenn die Tiere ihre Individualdistanz einhalten können und Rückzugsmöglichkeiten haben, ist dies nicht zu beobachten. Dies haben Sie ja in etwa auch in Ihrem Buch selbst geschrieben
(mit Ihren Worten:“ …in zu kleinen Behausungen kann das normal angeborene Gruppenverhalten nicht ausgelebt werden“).
Das setzt natürlich auch eine einigermaßen sinnvolle Strukturierung der Vogelumwelt voraus, die aber ohnehin für eine gesteigerte Lebensqualität der Vögel in Gefangenschaft notwenig ist.
D)
Außerhalb der Brutzeit, wenn
natürlicherweise auch die wilden Kanarenvögel im Schwarm leben (komisch, dass das hier von einigen immer hartnäckig ignoriert wird),
kann man durchaus ein intaktes, interessantes und normales Gruppenleben beobachten, mit allen spannenden, innerartlichen Verhaltensweisen. Zumindest für Verhaltensforscher und alle, die sich wirklich für das natürliche Verhalten interessieren ist es spannend.
Ist die Aussage:“ Ein Kanarienvogel ist kein Schwarmvogel!“ richtig? Nein!
Ist die Aussage:“ Ein Kanarienvogel ist kein Schwarmvogel wie z.B. der Wellensittich!“ richtig? Ja!
Wie komme ich zu der Aussage? Durch die allgemein, wissenschaftliche Definition des Begriffes „Schwarm“. (die ich ja bereits an anderer Stelle schon mal anführte).
Schlußfolgerung:
Ein Mensch kann einen Artgenossen niemals ersetzen, erst recht nicht, wenn der Halter womöglich tagsüber lange durch Schule, Arbeit etc. abwesend ist und der Vogel sich die meiste Zeit selbst überlassen bleibt, wie das ja leider häufig der Fall ist.
Schließlich stellen Artgenossen ja u.a. auch für das eigene Verhalten wichtige „Schlüsselreize“ dar, die angeborene und durch sie erlernte Verhaltensweisen auslösen. Dazu gehört natürlicherweise das Ausleben des Brutbedürfnisses, die Stärkung der Hierarchiestellung innerhalb einer Gruppe durch innerartliche Interaktionen und Kommunikation, Lernen von anderen (z.B. lernen männliche Kanarienvögel ihr Leben lang das Singen, Qualität und Quantität der Strophen bleiben variabel), Konditionierung, Modifikation, Kooperation (z.B. gemeinsame Nahrungssuche) … die Liste ist lang.
Ein Einzelvogel zeigt niemals das gesamte Verhaltensrepertoire, dass er in einer Gruppe zeigt. Tatsächlich lebt/blüht er deutlich auf, wenn er unter Artgenossen kommt. Davon kann sich jeder gern selbst überzeugen (natürlich unter den richtigen Haltungsbedingungen).
Ich denke es ist deutlich geworden, dass der Kanarienvogel eine Tierart ist, die zwar während der Brutzeit Reviere bildet, aber außerhalb dieser Zeit soziale Gruppen bildet.
MfG
S.
P.S.: Die hier gemachten Aussagen sind übrigens wissenschaftlicher Natur (wie der Herr Kollege sicher bestätigen kann), decken sich aber auch mit meinen eigenen Beobachtungen.