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Zu den sog. "Not-
Handaufzuchten":
Die oft und gerne benutzte Floskel "ich musste die Jungen per Hand aufziehen, weil sie von den Eltern gerupft, nicht mehr gefüttert oder verletzt wurden" drängt die Frage nach dem "Warum" - sofern sie überhaupt gestellt wird - in den Hintergrund.
Brut und Aufzucht stellen besondere Anforderungen an die Elternvögel. Einerseits gilt es, Gelege und Nestlinge zu verteidigen - womit sich die während dieser Phasen gesteigerte Aggression erklärt - , andererseits ist eine Aggressionshemmung hinsichtlich des Umganges mit den Nestlingen erforderlich. Unter störungsfreien bzw. störungsarmen Bedingungen wird die Balance zwischen Aggression und Aggressionshemmung in aller Regel funktionieren.
Störungen während der Brut- und Aufzuchtphasen können zu Fehlverhalten der Elternvögel - insbesondere hinsichtlich der empfindlichen Balance des Aggressionsverhaltens - führen. Die Schwellenwerte für die Auslösung solcher Fehlverhaltensweisen sind je nach Art unterschiedlich, jedoch durch vielfältige Beobachtungen, Erfahrungen und Publikationen generell abgesichert.
Aussagen über die Störanfälligkeit brütender und/oder aufziehender Papageienpaare lassen sich fast mit Beliebigkeit zitieren und sind in keiner Weise umstritten. Hier exemplarisch eine ganz kleine Auswahl:
"Während der Brutzeit sind Störungen innerhalb der Anlage unbedingt zu vermeiden. Bei den meisten Arten gestalten sich Höhlenkontrollen sehr schwierig, sie dürfen keinesfalls erzwungen werden." (Robiller, 1993)
"Besonders Graupapageien und einige afrikanische Langflügelpapageien haben sich als sehr störanfällig und nervös bei der Brut gezeigt (...) Allgemein aber sollte der Pfleger (...) alle unnötigen Störungen (...) unterbinden." (Luft, 1994).
"Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass eine weitgehend störungsarme Haltung entscheidend zum Gelingen eines Bruterfolges beitragen kann." (Lantermann, 1986)
Hoppe berichtet von einem Jungvogel der Venezuela-Amazone, der nach vorheriger Versorgung durch die Elterntiere nach der Vornahme einer Nistkastenkontrolle nicht mehr gefüttert wurde - Zitat: "(...) brachte sie die Brutblockinspektion so aus dem Gleichgewicht, dass sie von da ab dem Jungtier keine Beachtung mehr schenkten. Ein deutliches Beispiel, wie empfindsam auf Veränderungen während der Brut reagiert wird." (Hoppe, 1981)
"Man sollte die Tiere jetzt (Anmerkung von mir: nach der Eiablage) nicht mehr unnötig stören." (Bosch & Wedde, 1981)
Matthias Reinschmidt weist in einem Bericht zur Zucht der Soldatenamazone ebenfalls auf brut- und nestlingsgefährdende Störungen (u.a. durch Fotografieren der Nestlinge) hin. Zitat(e): "Um den Brutverlauf nicht zu stören und den eventuellen Erfolg nicht zu gefährden, wurden Nistkastenkontrollen auf das Notwendigste beschränkt (...). Um die Tiere nicht unnötig zu stören, wurde zu diesem frühen Zeitpunkt auf die Entnahme der Jungvögel aus der Nisthöhle verzichtet, um Aufnahmen zu machen." (Reinschmidt, 2002)
Störungen des brütenden Weibchens waren auch die Ursache für fehlgeschlagene Brutversuche bei Arasittichen. (Bueno, 2002)
Robiller verweist auf die Störanfälligkeit mehrer Arten. In Bezug auf das Brut- und Aufzuchtverhalten bei Goldsittichen schreibt er: "Sehr aggressiv, auch dem Pflegerr gegenüber. Höhlenkontrollen sind risikovoll. Das Weibchen verlässt das Gelege oder den Nachwuchs."
"Nach den Erfahrungen im Vogelpark Walsrode reagieren Rotschwanzsittiche sehr empfindlich auf Höhlenkontrollen während des Brütens und der Aufzucht (...) sind nicht selten der Gelegeverlust beziehungsweise der zerbissene Nachwuchs die Folge."
"Auch beim Weißohrsittich ist die Tötung des Nachwuchses nach Höhlenkontrollen keine Seltenheit."
(jeweils Robiller, 1990)
Vor diesem Hintergrund muss es erstaunen, dass selbst papageienerfahrene Fachautoren, die zudem mehrfach auf die Gefahren stressbedingter Störungen für den Brut- und Aufzuchtverlauf hingewiesen haben, ihr eigenes Handeln zuweilen nicht an dem ihnen verfügbaren Wissen ausrichten.
Als ein Beispiel sei exemplarisch Rosemary Low im Zusammenhang mit Problemen bei der natürlichen Aufzucht von Hyazintharas im Palmitos-Park (Gran Canaria) zitiert:
"Ich hofte, zwei Junge von den Eltern aufziehen und entwöhnen zu lassen (...). Handaufgezogene Hyazintharas werden im Allgemeinen sehr auf Menschen geprägt. Ich war der Ansicht, dass bei dieser Art von den Eltern aufgezogene Junge für Brutzwecke geeigneter seien (...) Zunächst hatten die Eltern die Handhabung ihrer Jungen zum Wiegen geduldet. Im Lauf der Zeit wurden die Eltern äußerst ungeduldig (...). Nach drei Wochen musste eine zweite Person beim Wiegen helfen, um zu verhindern, dass die Eltern in das Nest eindrangen. Sobald die Tür zum Nistkasten geschlossen wurde, kamen sie eilig herein und schlugen aggressiv gegen die Tür. Dies sollte ein Signal gewesen sein, dass die Jungen zur
Handaufzucht weggenommen werden mussten, ebenso die Tatsache, dass die Eltern, als das große Junge 30 Tage alt war, begannen, an den (...) Federn zu picken - oft ein Zeichen von Stress." Des Weiteren berichtet sie von Bissattacken der Elternvögel gegen einen Jungvogel und beschreibt die Konsequenz so: "Die beiden Jungen wurden sofort zur
Handaufzucht weggenommen." (Low, 1991)
Natürlich wird man bei solch wertvollen Tierren, deren Nachzucht sehr bergüßenswert ist, einen Verlust der Jungvögel vermeiden wollen. Es bleibt jedoch die Frage, warum die Konsequenz der erkannten (und bekannten) Störanfälligkeit der Eltern nicht einfach darin bestehen konnte, Stresssituationen zu vermeiden.
Kurz zusammenfassend kann gesagt werden, dass viele der sogenannten "Nothandaufzuchten" vermeidbar wären, wenn unnötige Störungen während der Burt- und Aufzuchtphasen unterblieben. Dies gilt sowohl für den Bereich der nicht-kommerziellen als auch für den Bereich kommerzieller Zuchten..